Nachfahren von NS-Opfern : Polen klagen gegen deutsche Konzerne

Von Gerhard Gnauck, Warschau
Politischer Korrespondent für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen mit Sitz in Warschau.

-Aktualisiert am 21.06.2023-10:15

Die Forderungen von Nachfahren von NS-Opfern belaufen sich auf insgesamt 4,3 Millionen Euro. Die Klage sei ein Novum, sagt die Anwältin.

Auch gegen Bayer wurde Klage eingereicht.
Bild: dpa

Nachfahren von Polen, die im Zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung litten, haben gegen die Unternehmen Henschel GmbH und Bayer AG Klage eingereicht. Monika Brzozowska-Pasieka, die Anwältin der Familien, sagte der F.A.Z. am Mittwoch: "Das ist meines Wissens das erste Mal in Europa, dass entsprechende Klagen nicht gegen den deutschen Staat, sondern gegen deutsche Firmen erhoben werden." Am Dienstag seien die Zivilklagen bei einem Gericht in Krakau eingegangen; dieses muss zunächst einmal entscheiden, ob es sich der Fälle annimmt.

Die Henschel GmbH ist der Anwältin zufolge Rechtsnachfolger der Firma Henschel und Söhne, die während des Kriegs von den deutschen Besatzungsbehörden die polnische Firma Fablok übereignet bekommen habe. Der später auch als Kunstsammler bekannt gewordene Leopold Wellisz hatte die Firma, eine Lokomotivenfabrik, mitgegründet und war später ihr größter Anteilseigner. 1940 floh der polnische Jude Wellisz nach New York, wo er 1972 verstarb. Seine Enkel machen aufgrund der Firmenübernahme Verdienstausfälle und eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte geltend. Sie fordern vom deutschen Unternehmen jetzt knapp 17,4 Millionen Zloty, umgerechnet etwa 3,9 Millionen Euro.

Im zweiten Fall geht es um den einstigen Direktor der Stickstoffwerke im südpolnischen Tarnów, Tadeusz ?ledzi?ski. Er war 1940 festgenommen worden und musste fünf Jahre im Lager Auschwitz verbringen, wo er für die Firma Bayer, damals Teil der IG Farben, Zwangsarbeit leisten musste. Seine Tochter fordert gut 1,7 Millionen Zloty (etwa 380.000 Euro), "wegen der Zwangsarbeit und dem vorenthaltenen Arbeitslohn" ihres Vaters, wie die Anwältin sagt. Zwölf Manager der IG Farben waren 1947 in Nürnberg zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden; die Anklagepunkte waren damals unter anderem "Plünderung" von Unternehmen in den besetzten Gebieten sowie "Versklavung" und Mord an Zwangsarbeitern und Lagerinsassen.

Polens Regierung hatte im vorigen Herbst einen Bericht über die gesamten Schäden des Landes durch Weltkrieg und deutsche Besatzung vorgelegt und diese auf umgerechnet 1,3 Billionen Euro beziffert. Seitdem versucht sie, in Gesprächen mit deutschen Politikern "Bewegung in das Thema zu bringen", wie es in Warschau heißt.

Die Anwältin Brzozowska-Pasieka ist Vorsitzende einer 2022 in Krakau gegründeten "Stiftung für Kriegsentschädigungen". Diese vereint laut ihrer Internetseite mehrere Dutzend Juristen und will vor allem "aufzeigen, dass die polnischen Opfer (der deutschen Besatzung) ein Recht auf Entschädigung haben". Die Stiftung will sich aber auch mit Verbrechen in anderen Kriegen befassen. Da Opfer als Individuen vor den beiden internationalen Gerichtshöfen in Den Haag nach Angaben der Stiftung nicht gegen "Aggressorstaaten" klagen können, wolle man darauf hinwirken, dass in Polen "unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ein Internationales Tribunal für Kriegsentschädigungen entsteht" und ein entsprechender Rechtsweg klar umrissen wird.


Quelle: